Die Christliche Sozialbewegung KAB pflegte an ihrer Jubiläumsfeier in St. Gallen Gemeinschaft und Besinnung, setzte sich sozialethisch auseinander, genoss Humor und Spiel. Und ging der Frage nach: Wie ist Wohlstand ohne schädliches Wachstum realisierbar?
Am 7. September 2024 fanden sich rund 200 Frauen und Männer ein im Pfalzkeller des Klosterhofes St. Gallen ein. Norbert Ackermann, Präsident der christlichen Sozialbewegung KAB SG, begrüsste die Jubiläumsversammlung. «Wir feiern den 125. Geburtstag gemeinsam mit der schweizerischen KAB und der Ur-Sektion St. Gallen-Dom.» 1899 war ganz in der Nähe der erste Katholische Arbeiterverein gegründet worden. Die Kirche hatte auf die industrielle Revolution und die entstandenen Nöte von Fabrikarbeitenden geantwortet: durch die 1891 erschienene Sozialenzyklika «Rerum Novarum» von Papst Leo XIII. Darauf initiierten der St. Galler Bischof Augustin Egger und der Religionslehrer Johann Baptist Jung genossenschaftliche Selbsthilfeeinrichtungen und halfen, überkonfessionelle Gewerkschaften zu gründen. Sie linderten soziale Not in einer Gesellschaft noch ohne sozialstaatliches Auffangnetz. Und sie bemühten sich um politische und religiöse Bildung.
Viele soziale Verdienste
In der Folge breiteten sich ähnliche Organisationen in der ganzen Deutschschweiz aus. Sie atmeten viel Pioniergeist und bildeten die Arbeitenden sozialethisch. Es entstanden das Hilfswerk «Brücke – Le Pont» und das «Sozialinstitut» (heute «ethik22»). Mit dem Verbandsmagazin «Treffpunkt» erschien 48 Jahre lang eine wichtige sozialpolitische Stimme der Schweiz. Die nach Geschlechtern getrennten Vereine gingen auf in der gemeinsamen «Katholischen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmer-Bewegung». Als «Christliche Sozialbewegung KAB» wirkt sie nach wie vor hilfreich und lebensnah in die Gesellschaft hinein.
«Auch heute ist die soziale Dimension des Evangeliums essentiell», sagte der KAB SG-Präsident. «Die Soziallehre der Kirche bietet zuverlässige Wegweiser für eine menschengerechte Gesellschaft, mit ihren Prinzipien Personalität, Gemeinwohl, Solidarität, Subsidiarität, Nachhaltigkeit und Option für die Armen.» Zum Aufbau eines christlich verankerten Netzwerks von Menschen mit Offenheit, Neugier und innerem Feuer.

Wohlfahrt ohne Wachstum?
So diente auch die Jubiläumsfeier nicht lediglich der Rückschau. Prof. Mathias Binswanger legte in seinem Referat dar, dass Wachstum in der Natur begrenzt ist. Die Geldwirtschaft scheint natürliche Grenzen aufzuheben. Das jährliche Wachstum liegt seit den 1980er-Jahren bei zwei bis vier Prozent. In kapitalistischen Gesellschaften müssen Unternehmen Gewinne erzielen, welche die Kosten übersteigen. Es gibt Wettbewerb zwischen ihnen, und dadurch eine ständige Notwendigkeit, besser als die Konkurrenz zu sein. Auch mithilfe des technischen Fortschritts, der stets neue Produkte und Verfahren ermöglicht. Binswanger schilderte das Dilemma: «Die Wirtschaft zwingt zu weiterem Wachstum, auch wenn Menschen gar kein Bedürfnis nach noch mehr Konsum haben.
Wachstum ermöglicht dem Staat, sich zu verschulden. Bei Stillstand gehen Firmen Konkurs, das System gerät in eine Abwärtsspirale. Doch Wachstum steigert den Wohlstand in hochentwickelten Ländern kaum noch und belastet die Umwelt. Aber wir müssen weiterwachsen, damit die Wirtschaft funktioniert.» Nur so gebe es Investitionen, Arbeitsplätze, Geld für die Bildung, Hilfe für die Schwachen und Vertrauen. Was lange bessere Lebensqualität verhiess, stellt diese heute infrage. Der Ökonom fragte: «Braucht es andere Formen der Unternehmensorganisation? Reform der Aktiengesellschaft als wichtigster Expansionstreiber, mehr Genossenschaften, Stiftungen?»

Zufriedenheit und Glück
In einem Podium wies der ehemalige SRF-Bundeshauskorrespondent Hanspeter Trütsch als Gesprächsmoderator auf die Bundesverfassung, welche mit der gemeinsamen Wohlfahrt als Entwicklungsziel beginnt. «Dies fordert uns in einem Wettbewerb der Ideen», sagte FDP-Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher. «Ich sehe in ihm einen liberalen Kompass für Eigenverantwortung und dafür, wie wir leben möchten, auch als Familien». Die staatlichen Rahmenbedingungen seien so zu setzen, dass es möglichst vielen gut geht. Und es gelte, subsidiär Hilfe zu leisten, wo Menschen nicht mehr selber aus der Not finden.
«Obwohl auch eine funktionierende Altersvorsorge auf Wachstum angewiesen ist – in den letzten Jahrzehnten steigerte es das gefühlte Wohlergehen nicht mehr unbedingt», stellte Franziska Ryser, Nationalrätin der Grünen, fest. «Das Bruttoinlandprodukt als dessen Kenngrösse misst zwar Dienstleistungen, aber die Umweltauswirkungen oder die Verteilung des Wohlstandes nicht. Ebenso wenig unbezahlte Arbeit. «Dennoch gilt das BIP für politische Vorlagen in der Botschaft als Massstab. Ich finde, das greift zu kurz, da sehe ich Handlungsbedarf.»
Thomas Wallimann-Sasaki, Leiter des Instituts «ethik22», erinnerte an den ersten Satz der Bundesverfassung: Im Namen Gottes des Allmächtigen. «Was ist der letzte Zweck unseres Lebens, was gibt ihm Sinn und Richtung? In der Präambel steht, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst. An dieser Grundausrichtung muss sich letztlich Wohlfahrt messen. Diese Werteauseinandersetzung können uns der Staat und Gesetze nicht abnehmen.»

Immer mehr Menschen
Hanspeter Trütsch sprach die hohe Einwanderung in die Schweiz an, die teils Befremden und Enge auslöse. Thomas Wallimann warnte: «Wenn ich Menschen nur daran messe, ob sie wirtschaftlich interessant sind, dann instrumentalisiere ich sie für ein Ziel, das nicht das Glück bringt. Wir müssen die finanzielle Wertschöpfung aus der Ökonomie herauslösen und diese mehr zu einer Geisteswissenschaft machen. Wie teilen wir Vermögen ausgleichend, welche soziale Verpflichtung enthält Macht?»
Zurzeit brauche es Zuwanderung aus ökonomischer Sicht, auch um die Sozialwerke zu finanzieren, fand Franziska Ryser. Sie nimmt wahr, dass viele «gute Migration» gegen jene aus Notlagen ausspielen. «Die Leute kommen aus Ländern mit Krieg und Umweltkatastrophen, die sie nicht allein verursachten. Wir trugen massgeblich dazu bei mit der Art und Weise, wie wir gewirtschaftet haben. Unser Wohlstand kommt zu einem Teil aus Ressourcen und Arbeitsleistungen des Globalen Südens. Da haben wir eine Mitverantwortung. » Für Franziska Ryser läge eine Antwort darin, den Pro-Kopf-Verbrauch an Ressourcen, Wohnraum, Verkehr herunterzuschrauben. Das Leben unserer Grosseltern war nicht nur schlechter.
Susanne Vincenz-Stauffacher stört an der Flüchtlingsdebatte, dass Angst gemacht und diffamiert wird. «Unser Wohlstand basiert auch auf Zuwanderung. Zudem haben wir Verpflichtungen durch die Personenfreizügigkeit. Und eine humanitäre Tradition.»
Hanspeter Trütsch sprach die Idee an, Arbeitgeber könnten für ausländische Arbeitskräfte Abgaben für die Allgemeinheit leisten, als Korrektiv zur Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Kosten. Und Thomas Wallimann weitete den Blick: «Wenn das Parlament die Entwicklungszusammenarbeit streicht zugunsten der Armee und Sicherheit, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn die Leute kommen.» Mathias Binswanger reagierte als Wirtschaftswissenschaftler aufs Podiumsgespräch: Zahlenmässig spielen Asylsuchende für die Wirtschaft kaum eine Rolle. Der Hauptbeitrag kommt aus der EU. «Für mich stellt sich als Hauptfrage: Streben wir ein Wachstum weiter an, das getrieben ist durch Einwanderung, aber nicht mehr Wohlstand, sondern Probleme schafft?»
Feiern, Danken, Hoffen
Im Festakt in der Schutzengelkapelle dankte Dompfarrer Beat Grögli allen Menschen, die in der 125-jährigen Geschichte der Christlichen Sozialbewegung KAB Gutes vorlebten und begeisterten.» Im Glauben, Hoffen und Lieben, an Grundsätzen und Orientierungspunkten zu wachsen, dies sei auch im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs entscheidend.
Durch den Tag begleitete das taufrische KAB-Kartenspiel Leo XIII, dass alle als Jubiläumsgeschenk erhielten. Der Papst selber stellt sich in der Spielanleitung vor. Das Spiel funktioniert nach dem methodischen Dreischritt «Sehen-Urteilen- Handeln» und den Grundprinzipien der Katholischen Soziallehre.

Theo Bühlmann, ehemaliger Redaktor des «Treffpunkt»