«Die Kurse in Lungern haben mir immer geholfen, meinen Glauben zu vertiefen. Denn was ich im Religionsunterricht in der Schule gelernt hatte, konnte ich im Leben nicht brauchen.» so erzählt mein Vater von seinen Erfahrungen mit der KAB. Noch heute mit über 90 Jahren ist für ihn unbestritten, dass ihn die KAB ein Glaubensverständnis gelehrt hat, das er im Leben brauchen konnte – persönlich, in der Familie, aber auch in Pfarrei und Gesellschaft. «Die KAB und ihre Kurse halfen mir, aufmerksam zu sein – und so engagiert zu sein für die Frage, was richtig und was falsch ist.»
Mein Vater, August Wallimann, gehört zu jenen KAB-Männern, die Anfang der 1960er Jahre ihre ganzen Ferien dafür hingaben, die «Soziale Arbeiterschule» zu besuchen. «Sozial» hatte damals nicht die gleiche Bedeutung wie heute. Vielmehr ging es um das Erlernen einer gesellschafts- politischen Sensibilität. Im Gespräch und Austausch miteinander, oft unter der Leitung des Präses, betrachteten diese damals jungen Männer die Entwicklungen der Gesellschaft, brachten ihre eigenen Einschätzungen ein und verglichen diese mit den Grundsätzen der KAB – die wiederum aus der Katholischen Soziallehre mit ihren Vorstellungen von Solidarität und Gerechtigkeit stammten. Es waren diese «Kerngruppen», die diese Menschen zu konstruktiv kritischen Staatsbürgern, aber auch Kirchenmenschen machten.
Ich bin als Kind mit der KAB «aufgewachsen ». Gottesdienste, Wallfahrten, Familientreffen und Vortragsabende mit bekannten Persönlichkeiten gehörten dazu. Erst mit dem Studium der Theologie und der Arbeit im Sozialinstitut ab 1999 begann ich wirklich zu erfassen, was die Geschichte meines Vaters bedeutet.
Was heute als «Design Thinking» oder auch «Human centered Design» die Wirtschaftswelt prägt, beginnt mit den Erfahrungen oder Wahrnehmungen der Menschen. Die Arbeiterbewegung kennt dies seit ihren Anfängen. Früher dachte man, dass man gerade moralische Fragen einfach so lösen kann, indem man vorgegebenen «Ordnungen» zu folgen hat. Doch die Industrialisierung brachte Herausforderungen und Fragen zu Gerechtigkeit und Arbeitswelt, die man nicht einfach «gemäss einer höheren Ordnung» lösen konnte.
Selber denken lernen ist wie ein Same
Der französische Philosoph Léon Ollé- Laprune erkannte, dass eine demokratische Gesellschaft entscheidend davon lebt, dass die einzelnen Menschen nicht nur ihre Probleme benennen, sondern auch selber denken, analysieren und daraus Schlussfolgerungen ziehen können. Wie sollten sie sonst als mündige Bürgerinnen und Bürger die Geschicke des Staates mitbestimmen?
In Frankreich führten diese Gedanken im ausgehenden 19. Jahrhundert – zeitgleich mit der Entstehung der Katholischen Soziallehre und gegenseitig beeinflusst – zu einer Jugendbewegung um Marc Sangnier. «Le Sillon» (die Furche) hiessen Zeitschrift und Bewegung. Beide hatten zum Ziel, die Menschen zu bilden, damit sie aufgeklärte, ethisch gebildete und christlich geprägte Mitgestalterinnen der Demokratie werden können. Wegen ihres selbständigen Denkens und einer Sprache, die nicht der bisherigen moralischen Redeweise der Kirche entsprach, wurde die Bewegung von der offiziellen französischen Kirche heftig bekämpft.
Die Frucht geht auf
Der junge Priester Joseph Cardijn in Belgien war zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark mit der Arbeiterbewegung verbunden. Schon 1925 organisierte er einen ersten Kongress für die christliche Arbeiterjugend. Überzeugt davon, den jungen Menschen mit Vertrauen zu begegnen und ihnen gleichzeitig ein Instrument in die Hand zu geben, das ihnen ermöglichte, christliche Werthaltungen mit den Herausforderungen des modernen Lebens in Familie und Arbeit zu verbinden, entwickelte er die Methode Sehen-Urteilen- Handeln. Ende der 1950er Jahre war es Cardijn, der die Methode Papst Johannes XXIII. vorstellte. Dieser machte sie in der Enzyklika Mater et Magistra 1961 weltbekannt und schliesslich fand sie auch in den Texten des II. Vatikanischen Konzils ihren Niederschlag.
Wichtiger denn je
Gerade angesichts der Herausforderungen heute, die Vielfalt der Meinungen, die Versuchung einfacher Antworten, die globalen Klimafragen, die Sorge um demokratische Mitsprache, aber auch ganz nah etwa die Entwicklungen im Gesundheitswesen, die Frage der Arbeit angesichts künstlicher Intelligenz, der Sinn des Lebens oder des Leidens, die Zukunft der Grosskinder, … – Zuerst sollen wir einfach mal wahrnehmen, teilen, was wir sehen – ohne bereits zu (ver)urteilen. Das ist gar nicht immer so einfach, doch es tut oft gut, eine solche Auslegeordnung der Wahrnehmungen zu machen.
Dann kommt der wichtige – aber auch strenge – zweite Schritt: jener des Denkens, Analysierens und Hinterfragens. Nun gilt es einzuordnen, abzuklären, Annahmen zu prüfen und Fakten zu klären. Dazu gehört auch die wichtige Arbeit, danach zu fragen, welche Hoffnungen und Menschenbilder von verschiedenen Positionen vertreten werden. Sehen sie den Menschen nur als Kostenfaktor? Glauben sie an das Gute im Menschen, an seine positive Gestaltungskraft? Sehen sie den Menschen als Einzelkämpfer oder doch stärker als Gemeinschaftswesen? Welche Auswirkungen hat dies auf das Verständnis von Freiheit? Aber auch: wie gehen wir mit Benachteiligten um? Was heisst genau Gerechtigkeit? So ergibt sich ein ganzes Spektrum an Positionen und Haltungen – zu denen ich nun meine eigenen Wertvorstellungen in Beziehung setzen kann.
Es sind diese Gespräche, die meinen Vater damals in der Kerngruppe, in der Sozialen Arbeiterschule und in den Kursen in Lungern fasziniert haben. Und diese Methode des Wahrnehmens, Denkens und Handelns hat ihm geholfen, den Glauben in seinen persönlichen Alltag als Arbeiter, Familienmann und politisch engagierter Mitmensch umzusetzen, aber auch aus diesen Wertvorstellungen heraus, seine Rolle als Ehemann, Familienmensch und engagierter Bürger wahrzunehmen.
Wagnis Mitgestalten
Wenn junge Menschen heute also nach dem Sinn ihrer Arbeit fragen, in einer Welt der lauten und schrillen Töne nach Stille suchen oder sich angesichts der Entwicklungen in den USA fragen, wie wir Sorge zur Demokratie tragen können, dann dürfen wir aus der langen Geschichte der KAB und den Erzählungen meines Vaters lernen, dass es sich lohnt, miteinander hinzuschauen, wahrzunehmen, nachzudenken, auszutauschen und so gemeinsam Perspektiven zu entwickeln und die Gesellschaft mitzugestalten. ethik22 sieht sich dieser Tradition verpflichtet und will dieses Erbe in die Zukunft tragen.
Thomas Wallimann, Leiter «ethik22»