Die Geschichte der KAB ist geprägt von einem kreativen Pioniergeist, der zu grossen Errungenschaften geführt hat. Mehrfach ging es mit der Bewegung bergab, aber sie konnte sich wieder neu erfinden. Heute wäre der Geist der KAB angesichts der Herausforderungen der Zeit wieder so wichtig wie zur Gründungszeit. Wird sie noch einmal neue Wege finden?
Der erste katholische Arbeiterverein und die Enzyklika ‚Rerum Novarum‘
Ende des 19. Jahrhunderts schritt die Industrialisierung stark voran. Die Landbevölkerung strömte in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Städte. Doch die Landflüchtlinge endeten fernab von ihren familiären Netzwerken und den vertrauten dörflichen Strukturen meist in extremer Armut. Es gab keinerlei soziale Netze, die sie auffingen. In Kontrast dazu standen die zunehmende Macht und der teilweise unverschämte Reichtum der Unternehmer.
Die Grossmächte hatten sich in feindlichen Blöcken gefestigt. Spannungen entluden sich immer häufiger in lokalen Kriegen, Vorboten der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Die Landesregierungen fühlten sich nicht nur von den feindlichen Nationen bedroht, sondern auch von der eigenen Arbeiterschaft, die sich in der Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Umstände sozialistischen und kommunistischen Strömungen zuwandte. Auf der anderen Seite gewannen auch rechtsextreme Bewegungen an Zulauf. Die Gesellschaft klaffte nicht nur in Arm und Reich auseinander, sondern polarisierte auch politisch in unversöhnliche Lager.
Inmitten dieser Stimmung wurde am 29. Januar 1899 in der Dompfarrei St. Gallen der erste katholische Arbeiterverein gegründet. Die Initiative zur Gründung gab der spätere Kanonikus Johann Baptist Jung, unterstützt vom St. Galler Bischof Augustin Egger. Diese Gründung war die Initialzündung für die christlichsoziale Bewegung in der Schweiz. Sie war beeinflusst von der Enzyklika ‘Rerum Novarum’ von Papst Leo XIII von 1891. Dieser erkannte in der ungelösten sozialen Frage die grosse Gefahr für das Zusammenleben und die Menschenwürde.
Er wandte sich gegen Liberalismus und Sozialismus gleichermassen. An ersterem kritisierte er die Ausbeutung durch den Kapitalismus, an zweiterem den Angriff auf die natürliche Ordnung von Familie und Eigentum. Er verteidigte das Privateigentum, machte aber klar, dass die Güter der Erde zum Wohle aller Menschen bestimmt sind. Die Eigentümer sind verpflichtet, sie für das Gemeinwohl einzusetzen (universelle Bestimmung der Güter). So fand er eine theologisch fundierte Balance zwischen Kapitalismus und Sozialismus.
Der Papst forderte von den Staaten die Unterstützung der Arbeiter. Er verlangte Massnahmen gegen Ausbeutung, faire Löhne, angemessene Arbeitszeiten, sichere Arbeitsbedingungen und soziale Sicherungssysteme. Ausserdem erkannte er die Notwendigkeit und das Recht der Arbeiter, sich zu organisieren. In Arbeitervereinen sah der Papst das wesentliche Mittel zur Verbesserung der Lebensbedingungen und der Bildung der Arbeiterschaft.
Die Enzyklika ‘Rerum Novarum’ bildet den Anfang dessen, was wir heute als Katholische Soziallehre kennen. In ihrem Gefolge schrieben die Päpste, wie sich auf der Grundlage einer christlichen Ethik gesellschaftliche Entwicklungen einordnen lassen. Die Texte sind sehr vielfältig und spiegeln immer wieder auch den Zeitgeist. Manche Ideen wurden schnell verworfen, andere bildeten Grundüberzeugungen heraus, die heute als «Prinzipien der Soziallehre» von Bedeutung sind.
- Personalitätsprinzip: Die Wirtschaft ist für den Menschen da und nicht umgekerht. Das gilt auch für alle anderen Systeme und Strukturen, denn alle Menschen sind gleich an Würde und ihre Würde ist unverhandelbar.
- Solidaritätsprinzip: Die gegenseitige Verbundenheit und Verantwortung der Menschen füreinander zeigt sich im vorrangigen Engagement für die Benachteiligten und jene, die zu kurz kommen.
- Subsidiaritätsprinzip: Die Selbstständigkeit der kleineren Einheit (z.B. der Familie) wird geachtet. Erst dort, wo die Kräfte der kleineren Einheit nicht ausreichen, ist eine übergeordnete Einheit (z.B. der Staat) verpflichtet zu helfen.
- Gemeinwohlprinzip: Gesellschaftliche Institutionen und politisches Handeln sollen so gestaltet sein, dass sie das Wohl aller Menschen fördern und die volle Entfaltung jedes Einzelnen ermöglichen.
- Nachhaltigkeitsprinzip: Der Planet und die Natur sind ebenso zu achten wie die Menschen. Der Einsatz für eine zukunftsverträgliche Mit- und Umwelt kann nicht getrennt werden vom Einsatz für gerechte Verhältnisse für arme Menschen.
Die erste Blütezeit
Der erste katholische Arbeiterverein war ein grosser Erfolg. Bereits an der ersten Versammlung wurde die Gründung einer Krankenkasse (die heutige CSS) beschlossen und noch im gleichen Jahr wurde eine Arbeitslosen- und eine Darlehenskasse eingerichtet. Bald folgten Wöchnerinnen- sowie Alters- und Unterstützungskassen. Auch das Vergnügliche und das Besinnliche durften nie fehlen: eine Gesangssektion, ein Familienabend im Casino und eine Generalkommunion am Palmsonntag.
Die St. Galler Vereinsgründung fand bald viele Nachahmer. Ein Merkmal der katholischen Arbeitervereine war ihre Gründungsfreude. Sie gründeten Kreditgenossenschaften, Konsumgenossenschaften, Versicherungsgenossenschaften, Baugenossenschaften, Bibliotheken, Arbeiterinnenheime, Arbeitersekretariate und eine eigene Druckerei. Manche Institutionen gingen ein, andere waren erfolgreich und wurden in die Selbstständigkeit übertragen.
20 Jahre nach der ersten Gründung gab es bereits 205 Männer- und 149 Frauensektionen mit zusammen ca. 35’000 Mitgliedern. Doch dann begann der erste Niedergang. 1940 waren weniger als 20’000 Mitglieder übrig. Dafür gab es zwei Gründe: Erstens hatten die Arbeiter durch die Wirtschaftskrise weniger Zeit für das Engagement in den Vereinen und weniger Geld für die Mitgliederbeiträge. Zweitens standen viele Errungenschaften wie Krankenkassen mittlerweile auch Nichtmitgliedern offen.
Die zweite Blütezeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es der KAB, sich mit neuen kreativen Aktionen und altem Pioniergeist wieder aufzurappeln. Der erste Schwerpunkt lag auf der praktischen Hilfe vor Ort. Die KAB Goldau rief z.B. einen Waschmaschinendienst ins Leben. Eine Waschmaschine wurde auf einem Veloanhänger von Haushalt zu Haushalt transportiert, um den Arbeiterinnen den Haushalt zu erleichtern. Im Kanton Thurgau unterstützte die katholische Arbeiterschaft arme Familien mit Kartoffeln und Kohle.
Der zweite Schwerpunkt lag im Bewusstsein, dass die Verbesserung der Lage der Arbeiter immer mit deren Bildung beginnt. Bereits ab 1940 wurde jeweils ein Jahresthema bestimmt und mit dem Dreischritt ‘Sehen – Urteilen – Handeln’ bearbeitet. Diese Methode wurde vom belgischen Arbeiterpriester, Begründer der internationalen christlichen Arbeiterjugend und späteren Kardinal Joseph Cardijn entwickelt:
- Sehen: Zuerst geht es darum die Zeichen der Zeit wahrzunehmen und sich vom Schicksal der Benachteiligten berühren zu lassen.
- Urteilen: Danach analysiert man die Fakten (Sachanalyse) und fragt sich, von welchen Werten und Menschenbildern man sich leiten lässt (Werteanalyse).
- Handeln: Zuletzt müssen Handlungsoptionen formuliert werden, denn positiver Wandel beginnt zwar im Kopf, er kann aber nicht dort enden.
Der Dreischritt wurde in allen Bildungseinrichtungen der KAB angewandt. In den Kerngruppen trafen sich KABler regelmässig, um brennende Themen zu diskutieren. Der ‘Sozialtag’ war eine jährlich stattfindende Bildungstagung. Die ‘Soziale Arbeiterschule’ war ein 14-tägiger Kurs, für den viele Arbeiter ihre ganzen Ferien investierten. Für Arbeiter, die sich nicht 14 Tage am Stück frei nehmen wollten oder konnten, wurde eine Abendschule unter dem Namen ‘Soziales Seminar’ eingerichtet. Auch ein umfassendes Reiseangebot von Skilagern bis Wallfahrten bestand.
Der neue Elan zeigte Wirkung. 1960 hatte die KAB wieder beinahe 30’000 Mitglieder in 262 Männer- und 129 Frauensektionen. 1956 wurde das Hilfswerk ‘Brücke der Bruderhilfe’ (heute ‘Brücke Le pont’) gegründet, das unter dem Motto ‘Engagiert für faire Arbeit’ wertvolle Entwicklungszusammenarbeit leistet. 1963 wurde das Sozialinstitut (heute «ethik22») als Drehscheibe für die Erwachsenenbildung sowie als Informations-, Beratungs- und Dokumentationsstelle für soziale Fragen gegründet. Ab 1969 erschien unter dem Namen ‘Treffpunkt’ ein neues Verbandsmagazin, das auch ausserhalb der KAB auf reges Interesse stiess.
Unaufhaltsamer Niedergang?
Dennoch verlor die die KAB bis 1970 wieder ein Drittel ihrer Mitglieder. Es kam zu dieser Zeit zu einer Distanz zwischen dem Zentralverband und den Sektionen. Dies zeigt sich an den Abonnenten des ‘Treffpunkts’. Die Zeitschrift entwickelte sich zu einem Sprachrohr der Katholiken, die den Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils in die Tat umsetzen wollten – auch auf die Gefahr hin, als Linke abgestempelt zu werden. Dies kam nicht bei allen an der Basis gut an. Während der ‘Treffpunkt’ ausserhalb der KAB immer mehr Abonnenten verzeichnete, nahmen die Sektionsabonnements laufend ab.
Ein Fortschritt war die Fusion der KAB Männer und KAB Frauen zum gemeinsamen Verband im Jahr 1973. Durch die Einrichtung einer Frauenfraktion und einem Rhythmus von Präsidentin/Vizepräsident und Präsident/Vizepräsidentin wurde eine fortschrittliche Parität der Geschlechter erreicht. Die Mitgliederzahlen blieben vorerst konstant. Doch ab 1985 begann ein erneuter Niedergang. Aus den Reihen der KAB hörte man häufig, dass die KAB zu dieser Zeit ihre Aufgaben verloren hätte. Das Ende des Kalten Krieges schien mit den globalen Machtblöcken auch die politischen Extreme aufgelöst zu haben und der Sozialstaat lindert die Nöte der Armen und Kranken. Höchstens noch das Hilfswerk Brücke Le pont habe seine Daseinsberechtigung. Entsprechend sanken auch die Mitgliederzahlen.
Der Zentralvorstand versuchte vieles, um diese Entwicklung aufzuhalten. Statuten, Struktur, Ämter und Erscheinungsbild wurden erneuert. Es wurden vier neue, ehrenamtlich geleitete Ressorts geplant: Kirche und Arbeitswelt, Dienstleistungen, Soziales und Politik, Freizeit und Reisen. Nur für die letzten beiden konnten jedoch genügend Interessierte gefunden werden. Zahlreiche Projekte, Umfragen und sogar eine externe Beratung wurden eingesetzt, um die Probleme zu analysieren und zu beheben. Doch es blieb vergebene Liebesmüh’. Verstärkt wurde der Abwärtstrend durch den Bedeutungsverlust der Kirche und heute enormen Glaubwürdigkeitsverlust. 2016 wurde die KAB verschlankt: Der Treffpunkt erschien zum letzten Mal und das Sozialinstitut wurde in die Selbstständigkeit überführt, um die wertvolle Tradition der KAB in neuem Kleid in die Welt zu tragen. So entstand «ethik22». Heute hat die KAB Schweiz noch etwa 2’000 Mitglieder in 30 Sektionen. Der Altersdurchschnitt liegt im hohen Rentenalter.
Neue gesellschaftliche Nöte
Betrachtet man heute die Zeichen der Zeit, erinnert einiges an die Gründungszeit der KAB. Globale Interessenkonflikte entladen sich wieder in lokalen Konflikten. Mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine ist der Krieg vor unserer Haustüre angekommen. Auch die Schere zwischen Arm und Reich geht seit Jahrzehnten wieder auseinander. Die Reallöhne nehmen in vielen Ländern ab und in der Schweiz stagnieren sie seit Jahren. Der Sozialstaat und damit die Armen und Benachteiligten stehen immer mehr unter Druck. Wir sehen zwar (noch) keine Verelendungstendenzen wie im 19. Jahrhundert, aber die Situation der Armen wird schlechter.
Die Gesellschaft zersplittert immer mehr. In vielen Ländern sind rechtspopulistische oder sogar rechtsextreme Parteien an Regierungen beteiligt. Die Corona-Pandemie hat eine tiefe Kluft hinterlassen. Eine grosse Herausforderung ist die Doppelkrise von Klimawandel und Artensterben. Sie ist auch bei uns immer mehr spürbar und hat in den Ländern des Südens bereits viele Menschen um ihre Existenz gebracht hat. Weitere Verunsicherung verursachen Digitalisierung und künstliche Intelligenz.
Es braucht die KAB also wieder genauso wie vor 125 Jahren. Die Geschichte der KAB war von Anfang an geprägt von einem Wechsel zwischen Niedergang und Wiederauferstehung. Doch so existenzbedrohend wie heute war die Lage noch nie. Das Ende der KAB wäre derzeit für die Gesellschaft kaum bemerkbar, aber das Verschwinden ihres einzigartigen Geistes wäre dennoch ein herber Verlust. Die Mischung aus engagierter Basisarbeit, kreativem Pioniergeist, Prinzipien der Katholischen Soziallehre und dem methodischen Dreischritt ist im KABGeist einzigartig verwirklicht.
So wertvoll der Geist der KAB heute wäre, in ihrer aktuellen Verfassung ist sie nicht in der Lage, einen nennenswerten Beitrag zur Lösung der Herausforderungen der Zeit zu leisten. Das Sektionsmodell wird nicht aufrecht zu erhalten sein. Neue Strukturen für einen kleineren, flexiblen Verein müssen gefunden werden. Dieser kann sich in Kooperation mit verwandten Institutionen auf einzelne Projekte fokussieren. Dafür reicht eine Gruppe engagierter Bürger. Der Fokus muss darauf liegen, die KABFlamme schwach glühend am Leben zu halten. Falls die Zeit kommt, kann sie wieder zu einem lodernden Feuer entfacht werden. Wer weiss, was die Zukunft bringt; Hoffnung ist eine christliche Tugend.
Jonas Sagelsdorff, Historiker und Verbandssekretär KAB Schweiz